Es ist nicht so, dass die ganze Welt die Polizei lieben würde. Aber während die einen sogar von einem Machtungleichgewicht profitieren, erscheint sie selbst skeptischen Menschen oft als notwendiges Übel. Es liegt allerdings in der Verantwortung der Gesellschaft, bei Polizeiübergriffen genau hinzusehen und Kritik zu formulieren.
Der daran anschließende Schritt ist die Suche nach Lösungsansätzen. Hier wird oft der Ruf nach Polizeireformen laut. Die Maxime „Defund the Police“ hilft dabei, kritisch zu hinterfragen, ob diese wirklich etwas verbessern würden, oder ob letztlich die Polizei noch mehr Möglichkeiten erhielte, in das Leben von Menschen einzugreifen und Gewalt anzuwenden. Reformen tasten den Nimbus der Alternativlosigkeit nicht an. Ebenso werden strukturelle Ursachen leicht ignoriert, womit gemeint ist, dass rechtliche Rahmenbedingungen und Mandat der Institution Polizei ein stereotypes Denken und Handeln begünstigen und einer selbstreflektierenden Fehlerkultur entgegenarbeiten. Es klingt in „Defund the Police“ bereits an, dass die Verfügung von Ressourcen (finanziellen wie organisatorischen) an anderer Stelle als bei Polizei und Ordnungsamt eher dazu geeignet ist, gesellschaftlich und individuell Gutes zu bewirken.
Defund the Police als Strategie auf dem Weg zur Abschaffung der Cops
„Abolitionismus“ (Abschaffung) nannte sich im 19. Jahrhundert eine Bewegung gegen die Sklaverei, die sich in Europa, Afrika und Amerika ausbreitete. Verbindungen zwischen Rassismus, Unterdrückung und Gewaltausübung bestehen weiter fort. Heute kann der Begriff Abolitionismus als gedanklicher Horizont dabei helfen, sich eine Welt vorzustellen, in der strafende Institutionen wie die Polizei, Gefängnisse und Jobcenter überholte Einrichtungen geworden sind.
Eine Erkenntnis ist, dass die Polizei keine der ohne Zweifel vorhandenen sozialen Missstände löst, jedenfalls nicht auf eine gerechte Art und Weise, und diese oft sogar verschärft. Das verwundert nicht, denn als die Polizei 1791 in Frankreich und 1829 in London ins Leben gerufen wurde, war mindestens eine wesentliche Motivation, eine ökonomische Entwicklung abzusichern, die ausgehend von einem Wandel der Produktionsweisen und Verdichtung von Warenströmen in einem Konflikt zwischen dem Durchsetzungswillen individueller Rechtsansprüche und dem Anspruch auf Existenzsicherung und Partizipation mündeten.
Polizeiliche Repressionen
Von den Menschen, die zum Stichtag 31. März 2019 in Gefängnissen inhaftiert waren, befanden sich 10 %1 als Ersatz für eine Geldstrafe dort, ein Drittel dieser Menschen sind wohnungslos. Wenn die Polizei die Aufgabe erhält, den Aufenthaltsstatus von Menschen zu kontrollieren, führt dies fast unweigerlich dazu, dass je nach Aussehen manche Menschen wesentlich häufiger als andere kontrolliert werden. Mit der Deklaration sogenannter „gefährlicher Orte“ können Stadtteile in einen Ausnahmezustand versetzt werden, und gesteuert werden, welche Teile des öffentlichen Lebens wo sichtbar sind. Strukturelle Missstände sollen durch das Narrativ der individuellen Schuld überdeckt werden. Oft trifft dies Orte, die nicht in das Stadtmarketing passen, entweder weil es den Menschen an Lebensqualität und Perspektiven fehlt oder sie eine eigene Lebensweise bevorzugen. Viele Vertreter*innen der Polizei stellen ihr Handeln gerne als objektiv und neutral dar und betonen, dass sie Sicherheit garantieren. Die genannten Beispiele zeigen, dass diese Darstellung strukturelle Ungleichheiten verschweigt, und dass die polizeilichen Eingriffe Barrieren in der Gesellschaft weiter verstärken: Es können sich Menschen nicht auf Augenhöhe begegnen, wenn die einen gedemütigt werden dürfen, und die anderen sich darin bestärkt sehen, auf die Erstgenannten hinabzusehen und sie beispielsweise durch niedrigere Löhne ausubeuten zu lassen. Abolitionismus beinhaltet eine auf der Menschenwürde basierende Kritik an abweisenden Staatsgrenzen und den mit einer kapitalistischen Ausrichtung der Wirtschaft zusammenhängenden Herrschaftsverhältnissen.
Die Polizei hat in den letzten Jahren eine starke Militarisierung erfahren. So sind auch Einsatzgruppen der Wache Nord mit Tasern und Maschinenpistolen ausgestattet. Dadurch entsteht für die Bevölkerung das Bild, wir bräuchten heutzutage flächendeckend derartig ausgestattete Trupps. Tatsächlich besteht aber ein Großteil der Polizeiarbeit aus relativ ungefährlichen Aufgaben, wie der Aufnahme von Verkehrsunfällen und Maßnahmen der Prävention und Beratung. Aus dem täglichen Mitführen der Waffen erwächst ein Missbrauchsrisiko.
Gesellschaft ohne Cops
Es kann gelingen, den polizierten Raum zu reduzieren. So taten sich die Menschen in Manchester zusammen und erreichten, dass die Polizei nicht mehr in den Schulen präsent ist. In Chicago und anderen Städten wurde im Rahmen von Protestcamps auf öffentlichen Plätzen die Umsetzung abolitionistischer Zielsetzungen erfahrbar gemacht, indem mit Angeboten von Essen, Kleidung, Bildung, Kunst, Literatur und gegenseitiger Begegnung exemplarisch eine sinnvollere Nutzung des Polizei-Budgets angedeutet wurde. Viele kleine selbstorganisierte solidarische Hilfsangebote existieren bereits auch in unserer Nähe, sind aber noch nicht immer allen bekannt.
Wenn Menschen ohne Polizei leben, finden sie in der Regel einen Umgang mit physischer und sexueller Gewalt und Streitigkeiten. Beispielsweise indigene Gemeinschaften und Menschen, die sich darüber bewusst sind, dass die Polizei zu rufen für sie zu gefährlich ist. Welche aktuellen Ideen, mit Gewalt umzugehen, gibt es? Eine Möglichkeit ist „Restorative Justice“. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, an dem alle Menschen mit Bezug zu dem Fall teilnehmen sollten. Dabei werden verschiedene Gesichtspunkte erörtert: Was benötigt die Person, die Gewalt erfahren hat? Wie kann die Person, die die Gewalt ausgeübt hat, Wiedergutmachung leisten? Wie kann die Beziehung unter den Menschen geheilt werden? Dies ist ein anderer Ansatz als eine normierte Gefängnisstrafe, die zwar einen begrenzten Schutz bietet, aber auch die sozialen Bindungen der Inhaftierten aufs Spiel setzt und keine Form einer nachhaltigen Gerechtigkeit erreicht.
Dieser Ansatz eignet sich nicht in Fällen, bei denen ein wahrgenommenes oder reales Machtgefälle ursächlich war. Hier bietet sich „Community Accountability“ oder „Transformative Justice“ an. Denn für das genannte Machtgefälle gibt es oft begünstigende systemische Faktoren im Umfeld, die verstanden und verändert werden sollten. Wenn hierdurch eine weniger gewaltvolle Gesellschaft erreicht wird, in der gegenseitige Verantwortung selbst praktiziert wird, statt sie in Form der Polizei zu externalisieren, hätte dies einen deutlich nachhaltigeren Effekt als ein Strafregime. Auch Abolitionismus will Schutz und Sicherheit geben, aber dabei keine Gruppen von Menschen ausschließen und sieht in strukturellen Verbesserungen den Schlüssel zum Erfolg.
Wenngleich Abolitionismus kein fertiges Konzept ist, und sich auch mit den besten Absichten neue gewaltvolle und nicht gesellschaftlich kontrollierte Strukturen bilden könnten, ist es aktuell notwendig, sich die Frage zu stellen: In welcher Welt wollen wir leben?
- Freiheitsstrafe ohne Jugendstrafe und Sicherungsverwahrung, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 4.1, 2022 und Bundestag, Drucksache 20/8816 vom 25.8.2023. ↩︎