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Krisendienst statt Polizeieinsatz

Vor zwei Jahren wurde Mouhamed Lamine Dramé, von Polizist*innen der Dortmunder Wache Nord getötet. Mouhamed befand sich über mehrere Tage in einer psychischen Krisensituation. Als Mouhamed am 08.08.2022 suizidale Gedanken äußerte und drohte, sich mit einem Messer selbst zu verletzen, riefen die Mitarbeiter*innen der Jugendhilfeeinrichtung den Polizeinotruf an. Selbst am Telefon äußerte der Mitarbeiter noch den Zweifel, ob die Polizei die richtige Stelle für ein solches Problem sei, aber in Dortmund gibt es keine Alternative.

Mouhameds Fall steht exemplarisch für so viele Menschen, die sich in psychischen oder psychosozialen Krisen befunden haben und (tödliche) Polizeigewalt erfahren mussten. In Köln wurde kurz zuvor Jouzef B. bei der Zwangsräumung seiner Wohnung erschossen. Eine psychische Erkrankung wurde drei Tage zuvor durch den gesetzlichen Betreuer und ein Gericht bestätigt. Als der Gerichtsvollzieher mit polizeilicher Unterstützung vor seiner Tür stand, geriet Jouzef in Panik und holte ein Messer. Die Polizei handelte – wie immer – aus Notwehr.

Auch der Tod Jouzefs ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: die überwiegende Anzahl der Menschen, die in Polizeieinsätzen getötet werden, befanden sich in einer psychischen oder psychosozialen Krise. Die Organisation Death in Custody beobachtet einen Anstieg der psychosozialen Krisen und Polizeigewalt – insbesondere bei Menschen, die von Armut oder Rassismus betroffen sind oder Menschen mit Fluchtgeschichte.1

Wenn gleich diese Fakten bekannt sind, wurden bisher keine wirklichen Konsequenzen für die Institution Polizei daraus gezogen. Stattdessen beschreibt Birgit Rydlewski in ihrem Blog die immer gleiche Strategie: „Polizei will überwältigen, Situationen in kurzer Zeit mit Macht- und Gewaltausübung beenden. Sich bei Überforderung zurückzuziehen, ist in dem Mindset gar nicht vorgesehen.“2

Es ist deswegen notwendig, über ambulante Krisendienste für Menschen in psychischen Krisensituationen zu sprechen. Die Polizei hat nicht das Mandat und ist auch nicht dafür ausgebildet, sich um Menschen in psychischen Krisensituationen zu kümmern. Daran ändern auch Zusatzausbildungen und Training der Polizist*innen nichts. Anstelle der Polizei setzen einigen wenige Kommunen in Deutschland auf ambulante Krisendienste. In Berlin besteht der Krisendienst u.a. aus einer Notfallnummer, die durchgehend erreichbar ist und ambulante Hilfen anbietet. Dieser Krisendienst wird von wohlfahrtsstaatlichen Trägern und den Bezirken des Landes Berlin finanziert. Eine enge Kooperation mit der Polizei ist aufgrund der Träger- und Finanzierungsstrukturen inhärent. Notwendig ist allerdings ein unabhängiger Krisendienst, der auch polizeikritisch agieren kann.

Aber ein Krisendienst hat nicht das Ziel die Gesellschaft zu transformieren. Primär geht es darum, die Notsituation durch empathisches Handeln aufzulösen und das Schlimmste zu verhindern: tödliche Gewalt durch die Polizei oder den Suizid.

Für einen ambulanten und beratenden unabhängigen Krisendienst empfiehlt es sich, eine Struktur mit multiprofessionellen Teams (Sozialarbeiter*innen, Psychotherapeut*innen, Mediziner*innen usw.) aufzubauen. Hierfür gibt es mehrere Lösungsansätze:

Unabhängige Vereinsstruktur:
Diese könnte, wenn sie keine Fördergelder vom Staat bezieht, unabhängig und Polizei kritisch arbeiten. Nachteil bei dieser Variante ist der langwierige und bürokratische Prozess bis zum Beginn der originären Arbeit eines Krisendienstes. Eine finanzielle Sicherheit für die professionellen Mitarbeiter*innen ist zwingend erforderlich, daher ist eine stabile Finanzstruktur des wirtschaftlich tätigen Vereins unumgänglich.

Frei-Gemeinnützige Strukturen innerhalb eines Wohlfahrtsträgers:
Krisendienste können auch als Teil existierender Wohlfahrtsträger etabliert werden. Die meisten Wohlfahrtsverbände erhalten schon diverse Projektgelder aus der öffentlichen Hand und bieten eine stabile Infrastruktur. Allerdings sind der Polizeikritik sowie der öffentlichen Äußerung dieser durch die finanziellen Abhängigkeiten eines Wohlfahrtsträgers Grenzen gesetzt. Der Berliner Krisendienst arbeitet eng mit der Polizei zusammen, es bestehen z. B. hinsichtlich der Fortbildungsmaßnahmen Kooperationen.

Notärztliche Strukturen:
Eine dritte Möglichkeit wäre eine Notfallstruktur, die direkt kommunal aufgebaut und finanziert wird, ähnlich wie ein RTW-System, zu implementieren. Ebenso stellen sich natürlich auch in diesem Fall die wechselseitig bedingten Fragen der Unabhängigkeit und der Finanzierung. Gleichzeitig ist die Einbindung in Notfallinfrastrukturen einfacher, sodass in Krisensituationen die Polizei nicht mehr angerufen werden muss und der Situation direkt fernbleibt.

Zentral für einen ambulanten Krisendienst ist die dauerhafte Erreichbarkeit über einen Notruf. Zusätzlich können Krisendienste niederschwellige aufsuchende Arbeit übernehmen, sowie anonyme Dokumentation und Gruppen- und Einzelangebote machen. Besonders wichtig: Die Beratung darf nicht erzwungen oder durch Kliniken, Ämter und Polizei veranlasst werden. Der Krisendienst basiert auf freiwilliger Zusammenarbeit zwischen Fachpersonal und Betroffenen. Expert*innen eines Krisendienstes sollten offen gegenüber allen Menschen sein, empathisch reagieren können, sowie psychische Erkrankungen nicht nur kennen, sondern auch Kenntnisse im Umgang mit diesen besitzen. Ein zusätzliches Netzwerk von Dolmetscher*innen, welches in Kooperation mit dem Krisendienst arbeitet, ist wichtig, um Sprachbarrieren zu überwinden. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen die Fachmitarbeiter*innen dementsprechend finanziell unterstützt werden.

  1. Death in Custody (2024). Recherche. https://doku.deathincustody.info/recherche/, zuletzt abgerufen am 19.09.2024 ↩︎
  2. Rydlewski, B. (2022). Was tun in Situationen mit Menschen in psychischen Krisen? https://birgit-rydlewski.de/2022/11/01/was-tun-in-situationen-mit-menschen-in-psychischen-krisen/, zuletzt abgerufen am 19.09.2024 ↩︎