von UmGäng-Herausgeber*innen Kollektiv
Die Polizei, und auch benachbarte staatliche Institutionen wie Justiz und Knäste, Abschiebegefängnisse und Armutsverwaltung, bieten keine Hilfe und Sicherheit, sondern verschärfen Ungerechtigkeit weiter. Der Polizei fehlen schlicht die Fähigkeiten, um gewaltreduzierend in komplexe soziale Gefüge und eine omnipräsente Gewaltkultur hineinzuwirken – und dies ist (historisch und gegenwärtig) auch nicht ihr Zweck. Dies ist der Grund, aus dem viele sozial unschädliche Handlungen poliziert und kriminalisiert werden (zum Beispiel das Existieren als Schwarze Person an öffentlichen Orten, Graffiti oder das Fahren ohne Fahrschein), während viele real schädliche Gewalt gegen Menschen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegt (etwa psychische Beziehungsgewalt und viele Fälle menschenfeindlicher Äußerungen und Handlungen). Auch wenn es zu einer Anzeige kommt, erhalten Betroffene zu oft keine relevante Unterstützung oder bekommen Recht. Eine polizeikritische Perspektive auf Kriminalität besteht also zum einen darin, die Kriminalisierung und Gewalt ganzer Gruppen, Orte und Handlungen zu bekämpfen. Zum anderen geht es um die Frage, wie Konflikte und Gewalt, die tatsächlicher Lösungen bedürfen, etwa (körperliche) Auseinandersetzungen, Konflikte oder (häusliche) Gewaltsituationen, gelöst werden können.
Hierauf bieten die Konzepte ‘Transformative Justice’ (Transformative Gerechtigkeit) und ‘Community Accountability’ (gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme) Antworten. Sie wurden Ende der 1990er Jahre von Schwarzen und indigenen Feminist*innen und Queers of Color in Nordamerika aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, ohne den Staat, der selbst als Quelle von Gewalt und Isolation erlebt und identifiziert wurde, Gewalt im Zusammenleben zu bearbeiten und damit gleichzeitig
auch langfristig vorzubeugen. An der Spitze dieser Bewegung standen Gruppen wie Critical Resistance1, CARA – Communities against Rape and Abuse, INCITE!, SistaIISista sowie GenerationFIVE2, eine Gruppe, die speziell zum Abbau von Gewalt gegen Kinder und junge Erwachsene arbeitet und postuliert, dass diese Form der Gewalt innerhalb von fünf Generationen abgeschafft werden könnte. ‚Creative Interventions‘3 brachte zudem ein umfassendes Werk mit Methoden und konkreten Arbeitsschritten für die transformative Arbeit heraus. Diese Gruppen arbeite(te)n an der Schnittstelle der antirassistischen Bewegung und Schwarzen Bürgerrechtsbewegung, Bewegungen gegen Strafe, Knast und Polizei, sowie queeren und feministischen Kämpfen gegen Gewalt4. Anstelle der repressiven und punktuellen Intervention der Polizei steht in der transformativen Arbeit die Kraft sozialer Beziehungen und kollektiver Wirkmacht. Hierfür schlägt die Gruppe INCITE! verschiedene Arbeitsgruppen vor:5
Im Zentrum stehen – anders als bei polizeilichen Interventionen und Strafjustiz – nicht die gewaltausübende Person, sondern diejenigen, die von Gewalt betroffen waren oder sind. Für sie Sicherheit, Handlungsfähigkeit und Heilung zu ermöglichen, sind die zentralen Ziele der Arbeit. Betroffenenunterstützung kann zum Beispiel ganz praktisch bedeuten, einen sicheren (Ausweich-)Raum zu organisieren, den Auszug einer gewaltbetroffenen Person und eventuell Kindern oder Haustieren aus einer bedrohlichen Wohnsituation, Wege zu Arbeitsplatz, Kindergarten oder Schule zu begleiten, Unterstützer*innen im Alltag zu mobilisieren, Begegnungen mit der Person, die Gewalt ausgeübt hat, zu organisieren oder zu verhindern, langfristig auf Autonomie von gewaltausübenden Personen hinzuwirken, bei der Suche nach Beratung und Therapie zu unterstützen, und auch, Erfahrungen selbstorganisiert und kollektiv zu bearbeiten – etwa Raum zu halten, um der betroffenen Person beim Berichten von Erfahrungen zuzuhören, gemeinsam zu lernen, Gewalt besser zu verstehen und eigenen Wahrnehmungen zu glauben. Das kann in Form eines Gesprächsraums unter betroffenen Personen über Gewalterfahrungen sein, denn oft erweist sich das Gespräch unter Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen, als bestärkend und unterstützend – oder auch von Unterstützer*innen getragene Arbeit wie zum Beispiel systemische Arbeit, Aufstellungsarbeit, die Arbeit mit Glaubenssätzen oder Innerem Team, körperzentrierte Methoden (Grounding, Achtsamkeitsübungen, Raumnahme / Selbstverteidigung), verschiedene Empowerment-Strategien oder Anderes, was in der jeweiligen Situation hilft.
Teil kollektiver Verantwortungsübernahme kann auch sein, die Person_en, die Gewalt ausgeübt hat_haben, in einem Prozess der Aufarbeitung und Veränderung zu begleiten. Hierbei helfen Anleitungen wie die von Creative Interventions oder dem deutschsprachigen RESPONS Kollektiv6. Kritische und zugleich empathische Begleiter*innen können hier darauf hinwirken, dass Personen sich mit eigenen Handlungen, die Schaden (englisch: „harm“) verursacht haben, auseinandersetzen, entstandene Verletzungen anerkennen, und dafür Verantwortung annehmen. Im Gespräch sowie anderer methodischer Arbeit können einzelne Handlungsweisen und zugrundeliegende Überzeugungen betrachtet und neue Handlungsweisen erlernt werden. Klar ist: Weder der Prozess der Heilung von Gewalt noch das Ablegen gewaltvoller Handlungsweisen ist nach einem klar abgesteckten Zeitraum „fertig“. Es können aber Marker gesetzt und (realistische!) Ziele vereinbart werden, die vielleicht auch wieder (angstfreie) Begegnungen und ein in-community-Gehen der Beteiligten ermöglichen.
Teil kollektiver Verantwortungsübernahme ist auch, die strukturelle Komponente geschehener Gewalt in den Blick zu nehmen. Dazu gehört, auch die geteilte (politische) Kultur und das Gemeinschaftsleben eines Umfelds, in dem Gewalt geschehen ist, auf gewaltvolle und ausbeuterische Werte und Handlungsmuster hin zu überprüfen sowie die gesamtgesellschaftliche Dimension der Gewaltausübung Einzelner zu betonen – und daher auch die Notwendigkeit, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.
Transformativer Gerechtigkeit geht es weniger um spezifische Methoden oder Handlungsweisen – es handelt sich auch nicht um eine Checkliste, ein Heilsversprechen oder gar eine auslagerbare Dienstleistung–sondern um das kollektive Commitment, Gewalt zu erkennen, betroffenensolidarisch zu handeln, selbstorganisiert und ohne Strafe darauf hinzuarbeiten, dass communities, also soziale Umfelder, weiterexistieren können. Im Gegenteil können communities gestärkt und mit engeren Verbindungen zueinander aus kollektiven Prozessen hervorgehen, das entstandene kollektive Wissen, die Resilienz gewalterfahrener Personen ebenso wie die Veränderungsbereitschaft derer, die Verletzungen verursacht und Verantwortung dafür übernommen haben, als kollektive Ressource verstehen.
Transformative Arbeit im deutschsprachigen Raum
Seit einigen Jahren sind transformative Konzepte auch im deutschsprachigen Raum angekommen. Arbeiten wie die Übersetzung ‚Das Risiko wagen‘ von CARA7, das Toolkit ‘Was macht uns wirklich sicher?’ oder das ‚Was tun bei sexualisierter Gewalt? Handbuch für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen‘ waren hierfür ebenso grundlegend wie aktivistische Bildungsarbeit und Gespräche auf Camps, in Besetzungen und linken Zentren und an Küchentischen8. Die dabei erfolgten Übersetzungs- und Lokalisierungsarbeiten gilt es weiterzuführen, und transformative Ideen und Praxen in den Kontext der europäischen wie auch der deutschen Geschichte und Gegenwart einzufügen. Wichtige Ergänzungen aus Perspektive Transformativer Gerechtigkeit sind dabei der Blick auf die Verschränktheit von staatlicher und zwischenmenschlicher Gewalt sowie die Ablehnung staatlicher und institutionalisierter ‘Hilfe’. Transformative Gerechtigkeit und Verantwortungsübernahme sind auch alltägliche Praxen, die jede*r im Hier und Jetzt umsetzen kann: unsere Bindungen untereinander stärken, einander im Alltag Hilfe leisten, Konflikte untereinander schlichten und lösen lernen, solidarische Kritik üben und eigene Vermeidungsstrategien erkennen lernen, Hierarchien abbauen, bei (Polizei-) Gewalt einschreiten, für Betroffene Partei ergreifen, Solidarität organisieren. Uns über die vielfältigen Wirkungsweisen herrschaftlicher Gewalt (weiter-) bilden und uns zusammentun. So kann durch kleine Schritte der Weg bereitet werden für eine Welt, in der alle frei und ohne Angst leben können.
Das UmGäng-Kollektiv wird Anfang 2025 ein Handbuch Transformative Gerechtigkeit beim Unrast Verlag veröffentlichen (https://unrast-verlag.de/produkt/handbuch-transformative-gerechtigkeit/). Kontakt: umgaeng@supernormal.net
- http://criticalresistance.org/, Zugriff am 27. Mai 2024. Gemeinsam mit INCITE! gab CR 2003 das maßgebliche ‚Statement on Gender Violence and the Prison-Industrial Complex‘ heraus, in: Social Justice, 2003, Vol. 30, No. 3 (93), The Intersection of Ideologies of Violence (2003), S. 141-150 ↩︎
- https://www.generationfive.org/, Zugriff am 27. Mai 2024. GenerationFIVE haben das Transformative Justice Handbook Ending Child Sexual Abuse herausgegeben, das online abrufbar ist unter https://www.generationfive.org/wpcontent/uploads/2017/06/Transformative-Justice-Handbook.pdf ↩︎
- Online in Englisch und Spanisch in voller Länge frei zugänglich unter https://www.creativeinterventions.org/toolkit/, Zugriff 27. Mai 2024. ↩︎
- Eine sehr ausführliche Sammlung wichtiger Dokumente aus dem US-Raum findet sich unter https://transformharm.org/, Zugriff 27. Mai 2024. ↩︎
- Übersetzt aus der Visualisierung von INCITE!, Organizing for community accountability, in: Law Enforcement Violence Against Women of Color & Trans people of Color: A Critical Intersection of Gender Violence & State Violence, S. 69, abrufbar unter https://incite-national.org/wpcontent/uploads/2018/08/TOOLKIT-FINAL.pdf, Zugriff 27. Mai 2024. ↩︎
- RESPONS Kollektiv: Was tun bei sexualisierter Gewalt? Handbuch für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen, Unrast 2021. Die im Buch vorgeschlagenen Ansätze und Methoden lassen sich auch auf andere Gewaltformen und Konstellationen übertragen. ↩︎
- In deutscher Übersetzung verfügbar unter: https://www.transformativejustice.eu/wpcontent/uploads/2017/04/Das-Risiko-wagen.pdf ↩︎
- Eine sehr ausführliche Materialsammlung mit vielen deutschsprachigen Texten findet sich unter https://www.transformativejustice.eu/de/ressourcensammlung/, Zugriff 27. Mai 2024. ↩︎