Lokalgeschichtliche Beobachtungen zu einer polizeilichen Fantasie
In seiner Ausgabe vom 8. April 1931 widmete sich der Dortmunder General-Anzeiger in einem Beitrag ausführlich dem neu eröffneten Polizeigefängnis in der Steinstraße in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs. Die der Sozialdemokratie nahestehende Tageszeitung lobte die am Rande der Nordstadt gelegene Haftanstalt als eine der „modernsten“ in Deutschland. Der mit Fotos illustrierte Artikel hob hervor, dass jede Zelle über ein „eigenes Klosett“, eine „Warmwasserheizung“ und „elektrisches Licht“ verfüge. Die Einrichtung sei daher ein Musterbeispiel für humanen Strafvollzug. Der Beitrag endete mit der Forderung, dass „alle Polizeigefängnisse […] dem vom Dortmunder Polizeipräsidium beschrittenen Weg folgen“ sollten.1
Zwischen Reformpostulaten und architektonischer Machtdemonstration – Die Steinwache
Wie der Umgang mit Inhaftierten in der Steinwache am Beginn der 1930er Jahre tatsächlich aussah, lässt sich kaum mehr rekonstruieren. Die umfangreiche, durchweg positive Berichterstattung über die „Steinwache“ war das Resultat professioneller, vom Dortmunder Polizeipräsidium bzw. vom preußischen Innenministerium betriebener Öffentlichkeitsarbeit, die die Eröffnung des Polizeigefängnisses dazu nutzte, die Arbeit, die Strukturen und die Ausstattung der Behörde als besonders modern und bürger*innenfreundlich darzustellen. Der Gebäudekomplex an der Steinstraße sollte zweierlei zum Ausdruck bringen: Zum einen die Reformpostulate des sozialdemokratisch geführten preußischen und Dortmunder Polizeiapparats, deren Protagonisten immer wieder dessen angebliche „Volksnähe“ im Gegensatz zu der durchweg autoritären Staatsmacht des 1918 zusammengebrochenen Kaiserreichs hervorhoben. Zum anderen sollte der kompakte Neubau unverkennbar die Autorität und die Wehrhaftigkeit des Staates und seiner Institutionen auch architektonisch verkörpern – nicht zuletzt durch dessen Lage am Rande der Nordstadt, an die sich schon damals stigmatisierende und rassistische Zuschreibungen und Narrative gegenüber der Bevölkerung knüpften.
Der Gefängnisneubau grenzte unmittelbar an die bereits seit 1906 bestehende Polizeiwache, die in einem wuchtigen, festungsartig anmutenden vierstöckigen Gebäude residierte, das heute von der Auslandsgesellschaft genutzt wird. Das ehemalige Polizeigefängnis firmiert seit 1992 als Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Mindestens 66.000 Menschen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus in das Gebäude verschleppt. Viele von ihnen mussten dort massive Übergriffe und Misshandlungen durch Gestapo und Ordnungspolizei erleiden. Nicht ohne Grund wurde die Steinwache von Verfolgten des NS-Regimes als „Hölle Westdeutschlands“ bezeichnet. Bemerkenswert waren indessen die räumlichen und funktionalen Kontinuitäten, die den im Zweiten Weltkrieg nahezu unversehrt gebliebenen Gebäudekomplex nach 1945 kennzeichneten. Das Polizeigefängnis wurde nahezu bruchlos weiter genutzt, bis es im Jahr 1958 im Polizeipräsidium in der Markgrafenstraße einen neuen Standort fand. Die Polizeiwache Nord residierte noch bis 1976 in dem wilhelminischen Verwaltungsbau, bevor sie in die Münsterstraße verlegt wurde.
„Moderne Architektur“ – „Moderne Polizeiarbeit“?
Nach 50 Jahren soll die Wache Nord Ende 2026 erneut umziehen – in einen Neubau, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite entsteht. In der Perspektive der Polizei handelt es sich bei dem geplanten Umzug nicht nur um einen pragmatischen Standortwechsel. Vielmehr entwirft die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit in diesem Zusammenhang wie vor 120 Jahren eine Vision angeblich moderner Polizeiarbeit, die gleichermaßen von vermeintlicher Bürgernähe als auch durch konsequentes Auftreten im Stadtteil gekennzeichnet sein soll. In diesem Sinne erscheint der Umzug der Wache Nord als Teil eines Stadtentwicklungsprojekts, in dessen Rahmen, so heißt es auf der Website des Polizeipräsidiums Dortmund, zwischen City und Nordstadt „ein urbanes Quartier von hoher Qualität“ entstehen soll. Polizeipräsident Gregor Lange hebt die Bedeutung „moderne(r) Architektur“ für die „moderne Polizeiarbeit“ hervor.2 Demnach sei die neue Wache „barrierefrei“ erreichbar und der Empfangsbereich „großzügig und modern gestaltet“. Insgesamt sei die geplante Wache „bürgerfreundlicher“. Gleichzeitig kündigt die Polizei aber auch einen „hohen sichtbaren wie verdeckten Kontroll- und Strafverfolgungsdruck“ an. Hierfür stünden durch die vorgesehene Zusammenführung mehrerer polizeilicher Organisationsbereiche am neuen Standort der Wache Nord künftig mehr Einsatzkräfte als bisher in der Nordstadt zur Verfügung. Der polizeiliche Blick auf den Stadtteil ist dabei durch stigmatisierende Annahmen, pauschale Zuschreibungen und vorurteilsbehaftete Projektionen geprägt, die die Legitimationsgrundlage für die massive Präsenz der Polizei, sowie Einsatzstrategien und Kontrollpraktiken darstellen.
„Negative Infrastruktur“ – polizeiliche Perspektiven auf die Nordstadt
In einem weiteren, offenkundig von der Dortmunder Polizei verantworteten online-Beitrag ist von „kriminalitätsfördernde[n] Rahmenbedingungen“ in der Nordstadt die Rede, die nach polizeilicher Wahrnehmung auf einer „negativen Infrastruktur“ gründen.3 Konkret sind damit „Wettbüros, Spielhallen, Teestuben und Problemhäuser“ gemeint, die von „Straftätern“ angeblich als „Rückzugsräume“ genutzt würden. Bereits das ökonomische und soziale Gefüge der Nordstadt an sich erscheint als potenziell gefährlich. Diese Deutung wird weiter verstärkt durch den ressentimentgeladenen Blick der Polizei auf jene Menschen, auf die die „negative Infrastruktur“ angeblich eine „magische Anziehungskraft“ ausübe, nämlich „unzählige Zuwanderer aus Südosteuropa sowie Nord- und Schwarzafrika4, deren Integration sich schon quantitativ und aufgrund der einhergehenden Delinquenz in unterschiedlichster Ausprägung auch aus polizeilicher Sicht sehr schwierig gestaltet.“ Diese Zuschreibungen weisen unverkennbar rassistische Züge auf, wird hier die von der Polizei konstatierte Kriminalität ausschließlich mit Migrant*innen in Verbindung gebracht, die gleichsam als unüberschaubare Masse („unzählige“) erscheinen. Diese polizeilichen Analysen, die maßgeblich auf Praktiken eines ethnisch, aber auch klassistisch ausgerichteten polizeilichen Profilings gründen, sind keine Spezifika der Dortmunder Polizei oder allein auf die Nordstadt gerichtet. Sie dürften vielmehr den gängigen Deutungsmustern entsprechen, die für polizeiliche Strategien überall in Deutschland, aber auch in anderen Ländern kennzeichnend sind.
Historische Linien der Stigmatisierung
Bemerkenswert ist jedoch, dass diese Sicht auf die Dortmunder Nordstadt eine jahrzehntelange Geschichte aufweist. Sie reicht über historische Zäsuren und politische Systemwechsel hinweg: vom Kaiserreich, über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Bundesrepublik bis in die unmittelbare Gegenwart. In den polizeilichen Deutungsmuster spiegeln sich bis heute Facetten einer – wie es der Historiker Alf Lüdtke genannt hat – „spezifisch deutschen Signatur von Polizei“, worin ausgehend vom Fixpunkt und Idealbild „flächendeckender Ordentlichkeit“ die „alltägliche ‚Kleinigkeit‘ mit dem ‚großen Ganzen‘ stets direkt verknüpft“ zu sein scheint.5
Von Beginn an avancierte die kontinuierlich wachsende Nordstadt, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Hauptbahnhof, Zechenanlagen und Stahlwerken entstand zu einer Projektionsfläche bürgerlicher und behördlicher Zuschreibungen die den Stadtteil notorisch mit Unordnung, Devianz und Kriminalität in Verbindung brachten. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückten die vermeintlich „unordentlichen“ Zustände in dem Stadtteil in den Fokus öffentlicher wie auch sicherheitsbehördlicher und administrativer Diskurse die dem Paradigma „flächendeckender Ordentlichkeit“ folgten.
Dabei richtete sich die Aufmerksamkeit häufig weniger darauf, die tatsächlich bestehenden städtebaulichen, nicht zuletzt hygienischen Missstände, die vor allem bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das Leben in der Nordstadt prägten zu verbessern. Vor allem bis zum Ende des Kaiserreiches beschränkte sich die mediale Berichterstattung allenfalls auf Appelle an die Obrigkeit, die infrastrukturellen Defizite zu beheben, um auf diese Weise in erster Linie das Erscheinungsbild Dortmunds nach außen zu verbessern. Oftmals blieb es aber auch bei der Verbreitung voyeuristisch aufgeladener Schreckens- und Sensationsmeldungen, die dazu beitrugen, dass „fast gleichzeitig mit ihrer Entstehung die Dortmunder Nordstadt mit Negativ-Attributen belegt worden“6 ist.
Unmoralische“ Orte
Dazu zählte auch der ressentimentgeladene Blick auf die zahlreichen Kneipen, Cafés, Varietés, Singspielhallen und Theater, später auch Kinos, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Nordstadt ansiedelten. Einerseits entwickelte sich das stetig wachsende Angebot an Freizeit- und Vergnügungseinrichtungen zu einem ökonomisch bedeutsamen, nicht zuletzt von den Dortmunder Brauereien geförderten Anziehungspunkt.7
Andererseits waren es aber auch genau diese Einrichtungen und Lokale, die besonders in der Perspektive von Polizei und Verwaltung, Ausgangspunkte für „Unordentlichkeit“, Devianz und Kriminalität darstellen konnten. Insbesondere Varietés galten den Ordnungsbehörden als in moralisch und sittlicher Hinsicht zwielichtige Orte der „Trunksucht und Völlerei“, über die sie mit permanenten Kontrollen, der Zensur des Programms, Tanzverboten, frühen Sperrstunden und dem Verhängen von „Lustbarkeitssteuern“ die Kontrolle zu erlangen versuchten. Um die Jahrhundertwende wurde ein Großteil dieser Restriktionen zwar aufgegeben, die kommunalen und staatlichen Ordnungsansprüche blieben jedoch bestehen. Sie spiegelten sich in engmaschigen Kontrollen, von Lokalitäten besonders auch Personen und Personengruppen wider.
Dies galt nicht zuletzt für Frauen, die sich ohne Begleitung im Umfeld der Vergnügungsviertel bewegten und dadurch den Verdacht auf sich zogen, der Sexarbeit nachzugehen. Die damit verknüpften abwertenden und stigmatisierenden Narrative spiegeln sich exemplarisch in einem Artikel der Dortmunder Zeitung vom 4. Juli 1927, in dem es unter der Überschrift „Razzia im Norden“ heißt: „Samstag Abend veranstaltete die Polizei in einigen Straßen des Nordens eine Razzia und es gelang ihr mehrere zweifelhafte Frauenspersonen festzunehmen. Trotz der Bemühungen der Polizei hält sich das Gesindel nach wie vor in verschiedenen Straßen des Nordens auf und das Einschreiten der Polizei [hat] meistens nur den Erfolg, dass es sein Standquartier verlegt.“8
Die Nordstadt als politisch subversiver Raum
Als suspekt galten aber auch die zahlreichen Menschen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Arbeitsmigration nach Dortmund gekommen waren, Ein großer Teil von ihnen stammte aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reichs. Insofern wiesen die dominanzgesellschaftlichen und polizeilichen Ordnungsvorstellungen auch (antislawisch)-rassistische Züge auf. Unverkennbar war zudem deren klassistische Aufladung. Zum einen galten in diesen Projektionen Arbeiter*innen als besonders anfällig für die moralisch und sittlich als gefährlich betrachteten Ausprägungen der Freizeit- und Vergnügungsangebote.
Zum anderen richtete sich die Aufmerksamkeit auf die vermeintlich revolutionäre und subversive politische Orientierung der sich formierenden Arbeiter*innenklasse und ihrer Organisationen, die aus bürgerlicher und polizeilicher Perspektive als bedrohlich wahrgenommen wurde. Tatsächlich war die Nordstadt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Hochburg der Arbeiter*innenbewegung und Schauplatz zahlreicher Kundgebungen und Demonstrationen, etwa im Jahr 1910, als dort rund 40.000 Menschen für ein demokratisches Wahlrecht demonstrierten. Im Zusammenhang mit Versammlungen in der Nordstadt anlässlich der Bergarbeiterstreiks in den Jahren 1905 und 1912 ging die Polizei teilweise mit massiver Gewalt bis hin zum Einsatz von Schusswaffen gegen demonstrierende Arbeiter*innen vor. In der Weimarer Republik avancierte die Nordstadt schließlich zu einer Hochburg der KPD, die für die Nazis bis zu deren Machtübernahme am 30. Januar 1933 weitgehend eine No-go-Area darstellte, für die Polizei jedoch einen Einsatzraum bildete, in dem engmaschige Bestreifungs- und Kontrollstrategien zur Anwendung kamen.9
Politik vergeht, Polizei besteht – Brüche und Kontinuitäten
An diese schon damals über Jahrzehnte hinweg bestehenden Feindbildkonstruktionen, knüpften Ordnungspolizei und Gestapo in der Zeit des Nationalsozialismus nahtlos an.10 Obgleich die britische Militärverwaltung nach der bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes am 8. Mai 1945 in ihrer Besatzungszone, zu der das heutige Nordrhein-Westfalen und somit auch Dortmund gehörte, zunächst umfangreiche Polizeireformen in Gang setzte, die eine Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entstaatlichung der Polizeibehörden vorsahen, die künftig stärker kommunalisiert und demokratisch kontrolliert werden sollten, änderte sich am polizeilichen Selbstverständnis und den daran geknüpften Konzepten „flächendeckender Ordentlichkeit“ wenig. Im Kontext des sich zuspitzenden Kalten Krieges, wurden die britischen Polizeireformen nicht konsequent umgesetzt und spätestens bis zum Beginn der 1950er Jahre weitgehend wieder zurückgenommen. Die von den Alliierten ursprünglich angestrebte Entnazifizierung war bereits während der späten 1940er Jahre versandet. Im Zeichen von gesellschaftlicher und institutioneller Schuldabwehr erfuhren behördliche Ordnungsvorstellungen sowie die daran geknüpften Ressentiments eine Restauration. Somit blieben auch die Nordstadt und ein Teil ihrer Bewohner*innen im Fokus polizeilicher Aufmerksamkeit. Mitte der 1950er Jahre avancierte etwa die jugendliche Subkultur der „Halbstarken“, deren Angehörige in Dortmund überwiegend aus dem proletarischen Milieu der Nordstadt entstammten zur Projektionsfläche medialer Erregung. Wie in anderen Städten auch, eigneten sich die „Halbstarken“ öffentliche Räume an, brachen in Jeans, Lederjacken und Petticoats ostentativ mit bürgerlichen Kleidungsstilen, hörten und tanzten Rock’n’Roll – kurz eigneten sich Ausdrucksformen der anglo-amerikanischen Kulturindustrie an, die in dominanzgesellschaftlicher Perspektive, nicht selten auch in rassistisch konnotierter Diktion als „Unkultur“ diskreditiert wurde. Vor allem in den Jahren 1956/1957 kam es in zahlreichen Städten der Bundesrepublik zu „Halbstarkenkrawallen“. In Dortmund ging die Polizei im Dezember 1956 an mehreren Abenden nach der Aufführung des Films „Außer Rand und Band“ im Capitol-Kino in der Hansastraße teilweise mit Wasserwerfer und Schlagstöcken gegen mehrere Hundert Jugendliche vor. Festgenommene wurden in die Steinwache gebracht, wo es Berichten von Betroffenen zufolge auch zu massiven polizeilichen Übergriffen gekommen sein soll.11
Die gute alte Zeit – Polizeiliche Erzählungen vom Niedergang
Die Polizei trat bei dieser Gelegenheit nicht nur mit dem Ziel auf, „Ruhe und Ordnung“ gleichsam reaktiv wiederherzustellen, sondern beanspruchte für sich, wie bereits in den Jahrzehnten zuvor, auch eine erzieherische Funktion. Der polizeiliche Blick auf die Gesellschaft war und ist stark von kulturpessimistischen Deutungsmustern geprägt, für die Narrative von kontinuierlichem Niedergang ebenso konstitutiv sind wie verklärend harmonisierende Bilder vergangener Zeiten, die sich nicht zuletzt an die Behauptung knüpfen, früher habe die Polizei mehr Respekt genossen.
Ein aussagekräftiges Beispiel für diese die Vergangenheit verklärende Perspektive bietet der in der Geschichtszeitschrift „Heimat Dortmund“ (1/2019) paraphrasierte Zeitzeugenbericht des mittlerweile pensionierten Polizeibeamten Franz Kannenberg, der während der 1970er und frühen 1980er Jahre in der Nordstadt eingesetzt war.12 Zwar sei schon damals in der Nordstadt „jede Nacht […] was los gewesen“. Es habe aber damals sogar bei den „Bummels“13 noch „Respekt“ vor der Polizei gegeben. Mit lediglich einem Beamten habe man im Zweifelsfall eine Kneipenschlägerei bewältigen können. Der „Respekt“ sei nun, so Kannenberg, nicht mehr so ausgeprägt, wie früher, was er explizit auch mit „Respektproblemen unter Zuwanderern“ in Verbindung bringt. Hier korrespondieren die ethnisierenden Deutungsmuster des pensionierten Polizeibeamten unverkennbar mit den stigmatisierenden aktuellen polizeilichen Aussagen bzgl. einer angeblich bestehenden „negativen Infrastruktur“. Aber auch in anderer Hinsicht rekurriert Kannenberg in ebenso verklärender wie zweifelhafter Perspektive auf eine aus seiner bzw. polizeilicher Sicht „bessere“ Vergangenheit. So hätten Bürger*innen in früheren Zeiten zwischen Nordstadt-Polizisten, die mehrheitlich mit grünen Mützen ausgestattet waren und Innenstadt-Polizisten, die weiße Mützen trugen genau unterschieden. Die „Grünen Mützen“ waren aufgrund ihres robusten Auftretens bekannt und berüchtigt. Demnach galt offenkundig damals schon das Auftreten von Beamten der Nordwache, als besonders gewaltaffin, was Kannenberg unverkennbar als positive Zuschreibung bewertet.
Fazit
Der kursorische Blick auf die Geschichte der Dortmunder Nordstadt und die an sie geknüpften Stigmatisierungen und negativen Zuschreibungen zeigt zum einen, die langen Linien der bis heute bestehenden Projektionen auf diesen Stadtteil. Von Beginn an waren die Polizei und andere Ordnungsbehörden an der Konstruktion dieser Erzählungen maßgeblich beteiligt, reagierten aber auch auf mediale und in Teilen der bürgerlichen Gesellschaft verbreitete Narrative, die die Nordstadt notorisch mit Unordnung, Devianz und Kriminalität in Verbindung brachten. Die Polizei bewegte sich somit nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einem gesellschaftlichen Kräftefeld, in dem repressive Ansprüche an die Staatsmacht herangetragen wurden, welches sie aber auch durch selbstentworfene Bedrohungsszenarien und Feindbildkonstruktionen mitprägte – und dies bis heute tut. Die Polizei betrieb dabei Lobbypolitik in eigener Sache. Je herausfordernder sich die Lage in der Nordstadt vermeintlich darstellte, desto schillernder konnte die eigene Rolle in der Öffentlichkeit dargestellt und inszeniert werden. Spätestens seit dem Beginn der 1920er Jahre kam der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit zentrale Bedeutung zu. Das vielfach genutzte Schlagwort in diesem Kontext bildete der Begriff der „Modernität“. Dies war bei der Eröffnung der Steinwache im Jahr 1931 der Fall und dies ist auch heute so, wenn die Dortmunder Polizei die neue Wache Nord als Teil eines modernen Stadtentwicklungsprozesses annonciert. Verknüpft waren und sind damit aber auch polizeiliche Vorstellungen von „flächendeckender Ordentlichkeit“, deren Durchsetzung (nicht nur) in der Nordstadt bis heute mit der Anwendung von Gewalt einhergeht.
- Vgl. Dortmunder General-Anzeiger vom 08.04.1931, abgedruckt in: Stadtarchiv Dortmund (Hg.): Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945. Katalog zur ständigen Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, 2. Auflage, Dortmund 2002, S. 14. ↩︎
- Polizeipräsidium Dortmund: Pressemitteilung vom 05.10.2023, online unter: https://dortmund.polizei.nrw/ ↩︎
- https://www.echt-nordstadt.de/akteure/85-polizeiwache-nord.html?
iccaldate=2022-11-1 ↩︎ - Neben der in diesem Satz vorgenommenen pauschalen Zuschreibung ist allein schon der genutzte Begriff rassistisch aufgeladen. Der Begriff wurde in der Kolonialzeit in abwertender Perspektive verwendet. Bemerkenswerterweise wird aufgrund seiner diskriminierenden Konnotation der Begriff beispielsweise auf der Website der „Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes“ nicht mehr verwendet. Eine Praxis, die sich offenkundig noch nicht bis zur Dortmunder Polizei herumgesprochen hat; vgl. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/nl_03_2021/nl_03_aus_der_beratungspraxis_1.html ↩︎
- Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung: „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“ Aspekte der Polizeigeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.): ,Sicherheit‘ und ,Wohlfahrt‘. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1993, S. 7-33, hier: S. 21. ↩︎
- Vgl. Sabine Kalke/Thilo Steinmann, 100 Jahre Pressespiegel Nordstadt – ein Auszug, in: Stadt Dortmund – Kulturbüro/Örtliche Kulturförderung und „Projektgruppe Nordstadt“ (Hg.): Nordstadtbilder. Stadterneuerung und künstlerische Medien – Projektdokumentation, Essen 1989, S. 136-139, hier S. 136. ↩︎
- Vgl. Elisabeth Kosok, Die Freizeit- und Vergnügungseinrichtungen des Dortmunder Nordens um die Jahrhundertwende – ein kulturhistorischer Streifzug, in: Stadt Dortmund, Nordstadtbilder, S. 140-146. ↩︎
- Vgl. Kalke/Steinmann, 100 Jahre Pressespiegel, S. 139. ↩︎
- Vgl. Daniel Schmidt, Die Straße beherrschen, die Stadt beherrschen. Sozialraumstrategien und politische Gewalt im Ruhrgebiet 1929-1933, in: Alf Lüdtke/Herbert Reinke/Michael Sturm (Hg.): Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 225-248, hier S. 229. ↩︎
- Ausführlicher zu polizeilicher Repression in Dortmund während der NS-Zeit vgl. Stadtarchiv Dortmund, Widerstand und Verfolgung. ↩︎
- Vgl. Hans Müller, „…eine echte Landplage…“ Die Halbstarken und Dortmund 1956, in: Stadt Dortmund, Nordstadtbilder, S. 243-250, hier S. 246. ↩︎
- Vgl. Peter Bandermann, „Sogar die Bummels haben uns respektiert“. Pensionierter Polizist berichtet aus bewegten Nordstadt-Zeiten, in: Heimat Dortmund – Stadtgeschichte in Bildern und Berichten, 1/2019, S. 28. ↩︎
- Gemeint sind hier Zuhälter. ↩︎