von Radio Nordpol
Mouhamed Lamine Dramé gelangte auf seiner Flucht aus dem Senegal zuletzt nach Dortmund in eine Jugendeinrichtung, wo sein langer und vermutlich traumatisierender Weg zunächst beendet schien. Kurz nach seiner Ankunft bemerkte er, dass sich sein psychischer Zustand verschlechterte, und er bemühte sich eigenständig um Hilfe. Nach einem weiteren, akuten Zusammenbruch äußerte Mouhamed suizidale Gedanken, saß zuletzt regungslos mit einem auf ihn gerichtetem Küchenmesser in einer kleinen Ecke des Hofes der Jugendeinrichtung. Der Notruf der Betreuer*innen lief jedoch aufgrund von fehlenden Alternativen bei der Polizei ein und die Beamt*innen der Wache Nord gingen hochgerüstet mit Taser und Pfefferspray in diesen Einsatz, der für Mouhamed tödlich verlaufen sollte.
Obwohl durch den Notruf bekannt war, welche Sprachen Mouhamed verstand, wurde diese Information anscheinend nicht an die Einsatzkräfte vor Ort weitergegeben. Deren Ansprachen blieben für Mouhamed unverständlich und er reagierte in seiner passiven Haltung nicht. Durch den Einsatz von Reizgas und Taser wurde die statische Lage durch die Cops beendet und Mouhamed versuchte diesem Angriff gegen ihn zu entkommen. Da sein einziger Fluchtweg in Richtung Polizeibeamt*innen war, werteten diese die wenigen Schritte Mouhameds als Angriff auf sie. Der „Last Man Standing“, wie ihn der Einsatzleiter nannte, Fabian S. schoß mit einer MP5 auf Mouhamed, welcher von fünf Kugeln getroffen im Krankenhaus verstirbt.
Ein weiter Polizeieinsatz mit tödlichem Ende für einen migrantisierten Menschen. Ein weiterer Einsatz, über den vielleicht kurz berichtet worden wäre – der aber sicher nicht viel Platz in der Aufmerksamkeitsökonomie dieser weißen Gesellschaft gefunden hätte, wären nicht kurz nach der Erschießung Mouhameds hunderte Menschen in Dortmund laut geworden, wären nicht trauend, wütend und entschlossen in der Stadt und vor der Wache Nord demonstriert worden.
Die Polizei NRW zog daraufhin unmittelbar Konsequenzen: Zunächst einmal wurde – wie üblich – eine Anzeige der Polizei gegen Mouhamed gestellt, die Wache Nord wurde personell aufgestockt und der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange sprach Medien gegenüber von verunsicherten Polizeibeamt*innen, die nun die Rückdeckungen des Polizeipräsidiums benötigen würden.
Seit Ende 2023 stehen nun der Schütze und die anderen angeklagten Polizeibeamt*innen der Wache Nord vor Gericht. Angeklagt sind der Einsatzleiter Thorsten H., der Todesschütze Fabian S. und die drei Beamt*innen Jeannine Denise B., Markus B. und Pia Katharina B..
Dieser Prozess ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis der dauerhaften und mühevollen Arbeit solidarischer Menschen ist, womit Mouhamed eine der wenigen Ausnahmen unter den vielen anonymen Opfern polizeilicher Gewalt ist, deren Tod vor Gericht beurteilt wird. Es ist überhaupt das erste Mal seit 1945, dass ein Polizist wegen Totschlags im Einsatz vor Gericht steht.
Im Prozess ist zu beobachten wie die Verteidigung der Polizist*innen versucht den katastrophalen Einsatz, ihr tödliches Versagen in ein Narrativ zu verpacken, dass die Polizei als Opfer darstellt. Und dies nicht nur im Tathergang am 08. August, sondern auch in ihrer alltäglichen Arbeit, weit über die Tötung Mouhameds hinaus. So schildert die Verteidigung der Cops vor der Presse ausführlich, wie belastet die Beamt*innen durch den Prozess seien, dem Hauptangeklagte Fabian S. wird darauf aufbauend nach seiner späten Einlassungen im Sommer 2024 eine riesige unkritische Medienaufmerksamkeit zuteil.
Die anwesenden Brüder Sidy und Lassana Dramé hingegen werden im Gericht kaum eines Blickes gewürdigt. Selbst als ihre Anwältin Lisa Grüter um die Möglichkeit eines Wortbeitrages bittet, wird dies abgelehnt. Der Name ihres Bruder ist sehr lange nicht präsent im Gerichtssaal. Mouhamed wird hier zum Objekt gemacht. Durch polizeiliche Dienstsprache ein weiteres Mal ausgelöscht. Er ist der Geschädigte, er bleibt namenlos, seine Geschichte und sein Leben ohne Bedeutung.
Es ist aber nicht nur eine Täter-Opfer-Umkehr, die im Prozess zu beobachten ist. Die Aussagen der Cops sind zum Teil abgesprochen, manchmal auch nicht dem erlaubten Verfahren entsprechend, wie u.a. ihre Chatprotokolle nach der Tötung Mouhameds belegen:
Auszug aus einem Chatprotokoll:
„Heute Abend um 21 Uhr kommt der Stankowitz noch vorbei und will ein inoffizielles Gespräch mit uns führen. Damit wir nicht komplett unvorbereitet morgen dahin gehen. Das ist aber wohl eigentlich nicht so ganz erlaubt und er bewegt sich damit auf dünnem Eis.“
– Polizeibeamtin Pia B. schreibt an den Beamten Kevin F., der als Zivilpolizist am Einsatz beteiligt war, einen Tag vor der Suspendierung; Achim Stankowitz ist seit Dezember 2021 Leiter der Direktion Gefahrenabwehr/Einsatz im Polizeipräsidium Dortmund, mit 1.300 Beamt*innen, die größte Direktion des Präsidiums
Beobachter*innen, die es in den Verhandlungssaal schaffen – nicht immer werden alle Zuhörer*innen auch nach mehrstündiger Wartezeit eingelassen – sind immer wieder fassungslos, wie der Vorsitzende Richter Kelm den angeklagten Cops die Bühne überlässt.
Neben der fehlenden Nennung von Gründen für nicht zugelassene Beweismittel und Kelms eigensinniger Art der Prozessführung, können die Angeklagten und ihre Verteidiger ihre Narrative der Copaganda setzen. In einer umfassenden Analyse der Medienberichterstattung1 – insbesondere des siebenteiligen-WDR-Podcasts u.a. mit dem Todesschützen Fabian S. – konnten wir zahlreiche Belege für diese Copaganda sowie rassistische Stereotypisierung, die Reproduktion dieser, als auch mangelhafte journalistische Arbeiten finden, die die Erzählung der Beamt*innen stützen.
Mitte August wurde öffentlich, dass die geplanten Prozesstermine bis Dezember 2024 verlängert werden. Es ist unklar wie geurteilt werden wird, aber dass das systemische Versagen im Urteil berücksichtigt werden wird, ist zu bezweifeln.
Der Prozess am Landgericht Dortmund wird von vielen solidarischen Menschen und Gruppen begleitet. Radio Nordpol versteht sich als Medium der kritischen Öffentlichkeit und berichtet seit Beginn vom Prozess. Neben einem Rückblick auf den aktuellen Verhandlungstag, lassen wir Vertreter*innen des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed, der Opferberatungsstelle BackUp, des NSU Watch, des Komitee für Grundrechte, dem Arbeitskreis der Kritischen Jurist*innen sowie weitere Menschen, die sich solidarisch mit der Familie Dramé vor Gericht zeigen, zu Wort kommen. Ergänzt wird die Prozessbegleitung des Radios durch weitere Podcast-Folgen, die sich mit speziellen Themen, wie z. B. dem juristischen Begriff der Notwehr beschäftigen.
- Radio Nordpol (22.08.2024): Presseschau zum Prozess im Fall der Tötung von Mouhamed Lamine Dramé. https://radio.nrdpl.org/2024/08/22/presseschau-zum-prozess-im-fall-der-toetung-von-mouhamed-lamine-drame/, zuletzt abgerufen am 18.09.2024 ↩︎